
Es gibt für Erziehungswissenschaftler einen sagenhaft interessanten Video-Vortrag zum Bildungsbegriff bzw. der Bildungstheorie von Humboldt zu entdecken.
Denn Prof. Dr. Ingrid Lohmann – emeritierte Lehrstuhlinhaberin für die Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung an der Universität Hamburg – fragt 2018 in ihrer Video-Lecture etwas ganz Einfaches aber Folgenreiches:
„Woher bezog Wilhelm von Humboldt die philosophischen Fundamente seiner Bildungstheorie?“
Humboldt als Schöpfer des deutschen Bildungsbegriffes ist ein Allgemeinplatz. Aber auf welche philosphischen Prämissen baute er dabei, auf welche Positionen gründet dieser Begriff? Lohmann zeigt, dass sich Humboldt an den aktuellen Philosophen seiner Zeit orientierte und das waren neben Immanuel Kant insbesondere auch John Locke und Adam Smith.
Doch der Liberalismus, den Locke und Smith formulieren, beschreibt eben nun nicht nur die Freiheit des denkenden und tätigen Menschen. Vielmehr enthält diese Denkrichtung auch die Rechtfertigung von Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Denn diese wurden im 18. Jahrhundert noch selbstredend als unbegrenzt gedacht und die englische Gentry und der Adel lebten von und mit dieser Ausbeutung. Die libertären Philosophen kritisieren nun die erblichen Standes- und Grundvorteile einer Kaste und sprechen ‚gleiche Rechte‘ auch dem Bürgerlich-Tüchtigen zu. Sozial ist diese Forderung unzweifelhaft ein Fortschritt, aber ökologisch bleibt der damit verbundene Prozess des Zugriffs unbestritten. Das Recht zur Ausbeutung von Natur wird so tatsächlich noch auf weitere Schichten ausgedehnt.
Eine englische Lebensweise im deutschen Bildungsbegriff
Damit fließt die Idee einer maximalen Ausbeutung von Ressourcen auch in die Bildungsphilosophie von Humboldt ein. Im berühmten Aufsatz von 1792 „Der wahre Zweck des Menschen“ steht nicht nur das bekannte
Der wahre Zweck des Menschen, […], ist die höchste und proportionierteste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.
sondern Humboldt schreibt später auch:
Durch Verbindungen also, die aus dem Inneren der Wesen entspringen, muß einer sich des anderen Reichtum zu eigen machen.
Es geht also um einen Reichtum, der zu erwerben ist. Und weil dieser als unendlich gedacht wird, gibt es dafür auch keine natürliche Grenze. Man beachte auch das „muss“, das der damals 25jährige Humboldt hier formuliert. Mit dieser Wortwahl schlägt die Freiheit sich zu bilden um, in eine Pflicht „Reichtum zu erwerben“. Von hier aus ist es konzeptionell nur ein kurzer Weg zur „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno (1947/1987), die auf die Selbstzerstörung der Natur über den Aufklärungsbegriff hinwiesen:
„Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen.“
Bildung wird in Deutschland kaum als Ausbeutung von Resourcen gedeutet. Umso spannender finde ich diese Diskussion. Denn damit wird der Allheil-Modus des deutschen Bildungsbegriffes („Probleme? Mehr Bildung!“) von innen heraus hinterfragt und nicht nur, wie sonst fast immer, über die Ergebnisse, also was genau Bildung nun gesellschaftlich oder wirtschaftlich leistet. Notabene auch ein Produktionsbegriff …