
Im Frühjahr 2023 wies mich ein Freund auf einen Artikel hin, den Olaf Dörner und Stefan Rundel in der Zeitschrift für Weiterbildungsforschung publiziert hatten (Dörner/Rundel 2023). Sie präsentierten dort die Ergebnisse ihrer qualitativen Umfrage unter VHS-Leitungspersonal in Sachsen-Anhalt, konkret um deren Bewältigungsstrategien des Unterrichtsbetriebes in der Corona-Pandemie: Volkshochschulen zwischen Auftrag, Inszenierung und Routinen . Zentrales Ergebnis war, dass die Verantwortlichen zunächst den eigenen Betrieb bewahrten und hier vor allem damit beschäftigt waren, ihre Formate plus Dozentenschaft auf den Online-Betrieb umzustellen.
Ein guter Artikel mündet in ein merkwürdiges Desiderat
Während ich Absicht und Durchführung der Studie gut und belastbar fand, erstaunte mich das Fazit und die formulierten Desiderate. Denn als Fazit sagten die Autoren, dass die Volkshochschulen sich programmatisch zwar als „gesellschaftliche Verbinder der bundesrepublikanischen Gesellschaft“ sähen, dass diese proklamierte soziale Kohärenzfunktion aber in der Corona-Krise keinesfalls stattgefunden hätte. Vielmehr hätten die VHSen nur auf sich selbst und den Eigenbetrieb geschaut. Daher auch der Titel ihres Beitrages. Darin wörtlich:
Wir haben es hier mit Praktiken von Akteuren zu tun, die als Gruppe zusammenwirken und als organisationales Ensemble wie auf einer Vorderbühne mit dem Ziel auftreten, einen bestimmten Eindruck beim Publikum zu erwecken, der jedoch nicht ohne Relativierung zugunsten seiner Stärkung, Schwächung oder Unterminierung auf der Hinterbühne unter Ausschluss des Publikums kontrolliert wird.
Es sei also alles, nach Goffman, eine „Inszenierung“. Für mich noch weniger nachvollziehbar war das formulierte Desiderat des Beitrages, denn darin wurde geäußert, dass es auf Grundlage der Ergebnisse es jetzt darum ginge die Gruppe der Festangestellten und die der Frei- oder Nebenberuflichen“ in ihrem Zusammenspiel zu untersuchen: „inwieweit handlungsleitende Orientierungen dieser Gruppen im Spannungsfeld zwischen Anspruch, Wirklichkeit und gesellschaftlich exponierten Themen wie die Corona-Pandemie von Bedeutung sind“.
Die Freiberuflichen an der VHS als „handlungsleitende Akteure“?
Wie meinen? Was haben freiberufliche Dozenten in der „handlungsleitenden“ praktischen Organisation einer VHS zu melden? Ich weiß es aus eigener Erfahrung: Gar nichts!
Es war ein guter Artikel mit einem völlig merkwürdigen Ausgang.
Und weil mich genau dieses Thema auch umtreibt – die Rolle der VHS als gesellschaftlich relevanter Bildungsanbieter – musste ich etwas dagegen schreiben. Dies auch, weil ‚nur anrufen‘ kaum zu etwas geführt hätte. Ich formulierte also etwas, fragte die Herausgeber der ZfW ob sie daran interessiert wären, sie waren es, und ab dafür. Nach ein paar Wochen steckte ich fest und fragte Ulrich Iberer, ob er mir nicht helfen könne. Er war von der Absicht fasziniert, stieg mit in den Prozess ein und war zum Schluss – auch nach einem umfassenden Peer-Review – die ganz große Kraft in der Fertigstellung und schlussendlichen Publikation des Artikels. Rein vom Arbeitsumfang her müsste er Erstautor sein, aber das bekamen wir bei Springer Publishing nicht mehr gedreht.
Die deutsche VHS ist nur als Vielheit angemessen definierbar
Unser Replik sagt im Kern, dass es ‚die‘ Volkshochschule gar nicht gibt, sondern dass die Volkshochschulen in der BRD tatsächlich ein Netzwerk bilden, das nur als Vielheit begreifbar ist. Netzwerke sind sagenhaft widerstandsfähig gegen Schocks und Einwirkungen, weil die jeweils betroffenen Knoten stets individuell reagieren, zurück- und ausweichen. Das macht diese Organisationsform so überragend resilient. Aber eben diese Charakteristik verhindert gleichzeitig, dass das Gebilde als Ganzes planvoll in die Zukunft hinein handelt. Die Volkshochschulen als Institution haben zwar den von Dörner zurecht kritisierten Anspruch auf eine verbindende Funktion, aber als Organisation in Netzwerkform können sie diesen Anspruch tatsächlich nicht einlösen. Ihre Reaktion auf die Corona-Pandemie ist damit aber auch keine ‚absichtvolle Täuschung des Publikums‘, sondern die naturgemäße Reaktion der vielen einzelnen Knoten auf einen allgemeinen gesellschaftlichen Ausnahmezustand. Daher der Titel unseres Aufsatzes: Die Volkshochschule als Netzwerk: Eine Replik zur Diagnose organisationaler Disparität (Wilcke/Iberer 2024)
Jetzt würde mich interessieren, wie die weitere Diskussion darüber stattfindet.