Paradigmenwechsel in der Frühkindlichen Bildung: Weniger Einzigartigkeit, mehr Gemeinschaftsfähigkeit

Artikel der Stz. Aug 2024- neues päfdagogisches Konzept - mehr Gemeinschaft

Die Stuttgarter Zeitung vom 19.08.‚24 informiert im Lokalteil über einen interessanten pädagogischen Paradigmenwechsel in der frühkindlichen Bildung. Dazu erläutert die Leiterin des Leiterin Abteilung Kita/Schulkind, Beate Streicher-Kielsch, in einem Bericht von Mathias Bury, dass das einstmals preisgekrönte „Einstein-Konzept“ nun weiterentwickelt werden soll (Link). Konkret will man sich wegbewegen von der Individualförderung des früheren Konzeptes, bei der das Individuum (hier also die Kinder in den frühkindlichen Einrichtung der Stadt Stuttgart) „mit seinen individuellen Interessen und Gefühlen“ wahrgenommen werden soll und es soll nunmehr hingehen zu „mehr Gemeinschaft, mehr Wir“. Abteilungsleiterin Streicher-Kielsch betont, dass „Gemeinschaftsfähigkeit muss künftig stärker Schwerpunkt sein“, denn – so der Artikel im Zitat – „Bei vielen Kindern habe ‚die Gemeinschaftsfähigkeit abgenommen‘[…]“.

Ein lesenswerter Abschnitt folgt:

„In den Einrichtungen zeigen sich auch die Folgen einer ‚Ich-Gesellschaft‘, in der der Einzelne vor allem frage ‚Was nützt mir?‘“

Der Artikel beschreibt dann einige Konzepte, die die Kitas nun stärken möchten. Genannt werden etwa „mehr gemeinsame Aktionen mit Regeln und Ritualen, mehr gemeinsames Singen und anderes“. Ob das ausreicht?

Als Erwachsenenpädagoge erinnert mich das natürlich auch an Klafkis „Solidaritätsfähigkeit“ , die als eine der großen Grundfähigkeiten und Bildungsziel didaktisch anzustreben sei (Klafki 2006:95). Schon im Studium, dessen Praxis ich als zutiefst unsolidarisch erlebt habe (Die furchtbaren und nicht sanktionierbaren Trittbrettfahrer in den Gruppenarbeiten!), war mir nicht klar, wie diese Bildungsdimension wirklich sinnvoll didaktisiert werden sollte. Meines Erachtens geht das nur über eine Praxis, wie auch das 1954 durchgeführte Experiment des Sozialpsychologen Muzafer Sherif unterstreicht (Sherif 1956 Quelle ). Sherif untersuchte in einem Sommercamp im Robbers Cave State Park in Oklahoma (die dem Experiment den Namen gaben: ‚Robbers Cave Experiment‘), wie zwei wahllos zusammengefügte Gruppen zuerst gegeneinander aufgehetzt, dann aber auch wieder zusammengeführt werden konnten.

At which point, the researchers tested out their primary hypothesis: activating a superordinate (i.e., higher-order) goal can bring conflicting groups together. That is, the researchers crafted problems that required solutions beyond the resources either one group could provide. For example, the researchers convinced the boys that all the drinking water for the camp had been blocked because of “vandals” in the area. Bringing both groups to the pipe proving to be the root of the issue, the boys had to work together to figure out how to get water for everyone. The researchers introduced other tasks, too, like forcing the boys to come up ways to earn money so each group could contribute toward the costs of watching a movie. Another activity had them working together to free a stuck truck that was carrying food for both groups. […] by the end of the camp, they wanted to take the same bus back; they wanted to sit across party lines […] (Quelle)

Im Experiment brachten also „gemeinsamen Aktivitäten für ein höheres, gemeinsames Ziel“ die Gruppen wieder zusammen, stärkten die Gemeinschaftsfähigkeit. Im Studium der Erwachsenenbildung fehlten solche Aktivitäten. Es bleibt damit auch fraglich, kommt man auf das Stuttgarter Kita-Konzept zurück, ob gemeinsame Rituale wie etwa der Morgenkreis ausreichend sozial aktivieren und tatsächlich ein ‚höheres Ziel‘ sind. Das wage ich zu bezweifeln.

Außerhalb der Kita-Räume etwas sozial oder real in der Gruppe gemeinsam bewegen (erste Ideen: Müll sammeln, Bedürftige unterstützten, Garten anlegen, Ökologie voran bringen, …) dürfte wahrscheinlich wirksamer sein, ist aber aufgrund des Alters der Beteiligten und dem deswegen erheblichen Mitspracherecht der Eltern sicher nicht einfach. Man müsste in einem Jahr (oder in fünfzehn Jahren bei den Erzogenen) noch einmal nachfragen, was sich tatsächlich getan hat.