Selbsterkenntnis und Selbstanalyse als persönlicher Erkenntnisweg

1. Selbstanalyse – wozu?

Im Nachwort des 1990 publizierten Buches Alltägliche Selbstanalyse (v. Werder 1990) steht ein Abschnitt, der im Internet ein FAQ heißen würde. Darin antwortet Lutz von Werder auf die Frage Was für Resultate kann die Selbstanalyse erbringen?:

Sie kann seelische Störungen beseitigen, wie Nervosität, Ängste, und Unsicherheit. Sie kann die Schattenseiten des Charakters bewußt machen und ein echteres Selbstbild anbahnen. Sie kann unbewältigte Erfahrungen aus der Kindheit bearbeiten und kreative Potentiale freisetzen. Sie kann aber keine professionelle Therapie ersetzen, aber im Kontext von Selbsthilfegruppen sicherlich bis zu 50% Wirkung wie eine professionelle Therapie entfalten.
(v. Werder ebd; 236)

Kurz gesagt geht es also um persönliches Glück und gelingendes Leben, das sich durch mehr Selbstakzeptanz, mehr Identität und Kreativität und mehr Gelöstheit von eigenen und fremden Zwängen auszeichnet. Es sind die gleichen, leicht einsichtigen Gründe, die jährlich tausende von Menschen eine psychologische Behandlung aufnehmen lassen. Nur dass eben die professionelle Psychologin mit Sicherheit schon ausgebucht ist und man sich also auf eine lange Wartezeit einstellen darf. Auch ist keineswegs sicher, dass die Beziehung zum Psychologen automatisch eine glückliche wird.

Und dann ist da noch die Frage nach dem Rubikon, also ab welchem Grad von Leidensdruck man beginnt, tatsächlich die nächstgelegene Praxis zu googeln. Aber welche Lösung liegtdavor, also im weiterhin durchschnittlich neurotischen Leben, in dem wir uns alle mehr oder weniger befinden? Hier wäre es doch spannend, Lutz von Werder das zugegebenermaßen sonderbar konkret klingende 50%-Versprechen von Wirkung abzunehmen, und eine Selbstanalyse zu starten. Immerhin gibt es kaum Betätigungen, die weniger kosten. Mit einem Stift und einem Blatt Papier ist man ausgerüstet. Später kommt eventuell noch ein Ordner hinzu, aber damit kann das Abenteuer der Selbstanalyse beginnen und – wer weiß – wenn man nachher glücklicher lebt, hat sich die hohe zeitliche Investition, die alle Quellen als unerlässlich ansehen, dann eben doch gelohnt.

2. Von der Selbsterkenntnis zur Selbstanalyse – ein geschichtlicher Abriss

Schon im klassischen Griechenland stellte die Selbsterkenntnis ein Lebensideal oder zumindest ein erstrebenswertes Ziel dar, die Inschrift „Gnothi seauton“ (Erkenne Dich selbst) am Apollotempel in Delphi (600 v. Chr.) zeugt davon. In der anschließenden Philosophiegeschichte ist die Selbstprüfung insbesondere mit der Stoa1 und ihrem berühmtesten Vertreter Marc Aurel (121-180) verbunden.
Aber erst mit Sigmund Freud (1856-1939) wandelt sich, durch die Beschäftigung des berühmten Wieners mit seinem eigenen Unterbewussten, die vorher geforderte „Erkenntnis“ zur „Analyse“.

Dazwischen liegt noch ein beachtenswertes Intermezzo der deutschen Aufklärung mit Karl Philipp Moritz (1756 -1793) dessen Roman „Anton Reiser“ (in vier Teilen von 1785-1790 erschienen) eine intime und ausführliche Selbsterkundung darstellt2. Das durch K. P. Moritz von 1783 bis 1793 dazu parallel herausgegebene ‚Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‘ war die weltweit erste psychologische Zeitschrift, die dazu über ihre offene Beitragsredaktion als erste aktive psychologische Selbsthilfegruppe der Welt gelten darf3. Auch Jean Jaques Rousseaus Bekenntnisse (1782 – 1789) fallen in diese Zeit und die Absicht die Spannung zwischen werdendem Individuum und gegebener Welt zu erkunden bzw. produktiv zu machen.

Als Freud nach der ersten Patientin auch sein eigenes Unterbewusstes analysiert, muss er diese Analyse selbstverständlich selbst durchführen, wobei er sich darüber allerdings eng mit Freunden und Kollegen austauscht. Auch alle seine frühen Mitarbeiter, Kollegen und Nachfolger analysieren sich ebenfalls ganz selbstverständlich selbst. Der einfache Grund ist, dass es in den Jahren zwischen 1899 (als Freuds erstes Buch, die „Traumdeutung“ erscheint )4 und 1920 (als in Berlin erstmals die Ausbildungsrichtlinien der Psychoanalyse fixiert werden, die eine Fremdanalyse vorschreiben) weder in Wissensstand noch in Anzahl ausreichend Fachleute gab, die eine solche Fremdanalyse hätten durchführen können.
In den ersten zwanzig Jahre der modernen Psychoanalyse war damit die Selbstanalyse das übliche und selbstverständlich angewandte Vorgehen aller Beteiligten.

Weitere, daran anknüpfende Bemühungen, der Selbstanalyse zu einem gesellschaftlich breiten Durchbruch zu verhelfen, gab es durchaus, auch weil man sich davon eine umfassend de-neurotisierte Gesellschaft versprach. Doch die entsprechenden Bemühungen wurden in Deutschland durch die Nationalsozialisten und in England durch den hereinbrechenden zweiten Weltkrieg verhindert, der eine aufkommende Bewegung unterband bzw. marginalisierte.

Erst nach 1945 zeigen in Deutschland die Arbeiten von Klaus Thomas (1915-1992) – Berliner Pfarrer, Arzt und Psychotherapeut – in der Suizidpräventation wieder Wege zu einer strukturellen Selbstanalyse auf5. Zeitlich parallel erscheinen die Schriften der Amerikanerin Karen Horney (1885-1952). Sie formuliert, dabei auf Freud aufbauend und ihn erweiternd, Prozesse und Richtlinien der Selbstanalyse, die sie in einem höchst erfolgreichen Buch gleichen Namens darlegte: „Selbstanalyse – als Weg zur Erforschung des eigenen Unbewussten“ erschien 1942 und wurde ab 1974 auch in Deutschland mehrfach, zuletzt erst 2017, immer wieder neu aufgelegt6.

Ab Ende der 1970er Jahren verbreitet sich in Deutschland der Wunsch nach einer Demokratisierung der Psychoanalyse, die sich in einem Boom der Selbsthilfegruppen äußert. In diesem Zusammenhang waren es erneut die Methoden der Selbstanalyse, die dem Wunsch nach autonomen Behandlungsformen entsprachen. Ab Ende der 1980er Jahre wurden daher auf breiter Front Bücher publiziert, in denen der Nexus aus Selbsthilfegruppen, Humanistischer Psychologie und Selbstanalyse wichtig ist (Lutz von Werder 1989, 1992)7.

Studiert man die vorliegende Literatur, so zeigen sich heute insgesamt sechs Zugänge zur Selbstanalyse, die aber – von Werder betont das ausdrücklich – immer auch eine Schreibtherapie ist.

3. Theoretische Zugänge zur Selbstanalyse

Aus der Theoriegeschichte kann man sechs grundlegende Zugänge zum Prozess der Selbstanalyse abgrenzen:

3.1 Biografiearbeit

Was unmittelbar vorliegt, ist der eigenen Lebensweg. Ihn beschreibend zu verstehen, ist Ziel der Biografiearbeit (Gudjons, 2008: Auf meinen Spuren: Übungen zur Biografiearbeit8). Die schriftliche Auseinandersetzung mit der Biographie dient der Rationalisierung des Lebens, das Ziel ist ein Friedensschluss mit sich selbst und ein Aufschluss über die Kräfte, die den eigene Weg gestaltet haben. Hierzu gehört oft auch die erwünschte Klärung über das Wohin, also die Planung des weiteren Lebens. Dieser Zugang arbeitet viel mit bewusstem Material, tatsächliche Ereignissen, über die verborgenene Dispositionen und Wünsche in verstehbare Ziele und Antriebe übersetzt werden sollen.

3.2 Neo-Freudianisches Suchen nach frühesten Kindheitserinnerungen

Die Entdeckung und schriftliche Fixierung von frühen und frühesten Kindheitserinnerungen soll vor allem als das Finden von sogenannten „Deckerinnerungen“ verstanden werden. Nach Freud sind dies gerade noch bewusste Erinnerungen, die aber eine Funktion der Abdeckung haben, also tiefere Verletzungen oder frühere Prägungen und Erlebnisse überdecken. Da vor allem diese früheren, tieferen Prägungen die eigene Psyche bewegen, sollen die Deckerinnerungen nur der Ausgangspunkt sein, um von dort aus, idealerweise frei Assoziierend, weiteres, bislang eben un-bewusstes Material zutage zu fördern.

Bei diesem „Assoziativen Ausgraben“ von frühesten Prägungen und Verdrängungen hilft die Anwendung von Tiefenentspannung, Autogenem Training oder Selbstsuggestion. Entspannung lockert die Körper, womit die Verdrängungsarbeit, die sonst in den Erhalt des Körperpanzers (Wilhelm Reich)9 investiert werden musste frei wird und der befreite Überschuss nun den leichteren Zugriff auf weiteres tiefenpsychologisches Material erlaubt bzw. die Kraft gibt, Widerstände bei der weiteren Entdeckung zu überwinden.

3.3 Aktive Imaginationsarbeit

Die aktive Imaginationsarbeit, etwa als Kathatymes Bilderleben bei Hanscarl Leuner10 oder auch als (selbst-)angeleitete Phantasiereise der esoterischen Szene, produziert dagegen interne Szenen und Gefühle. Durch die Entspannung und Einsatz von Autosuggestion wird ein aktives Durchleben von Geschichten angeregt, es werden archetypischen Bilder und Szenen (C.G. Jung) zum Leben erweckt und damit zur Sprache gebracht. Vom Schreibtisch aus geschieht so die Heldenreise, die Begegnung mit Quellen, Höhlen, Flussläufen, dem Grund des Meeres, magische Figuren. Gelenkte Imagination bringt dieses Unterbewusste dann in mehr oder weniger zusammenhängenden Strukturen zum Reden.

Ein mögliches Problem der Technik ist, das selbst imaginierte Geschichten oft ein verblüffend hohes Wahrheitsempfinden vermitteln. Das erlebt-gefühlte „Gespräch mit der alten Frau im Wald“ scheint außergewöhnlich authentisch, weil darin alles „von mir selbst“ stammt. Dennoch müssen diese Visualisierungen unbedingt auch als Selbstäußerungen verstanden werden, die daher auch fehlinformiert, voreingenommen oder schlicht falsch sein können, selbst wenn es naheliegend ist, sie als direkten Ausdruck von unterliegenden Kräften, Dispositionen und Spannungen zu verstehen. Nach Lutz von Werder nimmt diese ‚Imagogik‘ sehr direkt und aktiv Ängste oder affektive Steuerungen in den Blick.

3.4 Fragebogenmethode nach Thomas

Klaus Thomas war Berliner Pfarrer, Arzt und Psychotherapeut (1915-1992), der die Berliner Suizidprävention (Telefonseelsorge) aufbaute. Aus dieser Arbeit heraus empfahl er die Selbstanalyse, die er über Fragelisten anleitete, die strukturiert bestimmte Bereiche des eigenen Lebens abdecken: Familie, Arbeit, Sexualität, Spannungen, Krankheit, usw. Das Medium des Fragebogens verhindert tendenziell das größte Problem der Selbstanalyse, nämlich das Ausweichen vor dem eigenen Problemen. Thomas geht es denn auch explizit um eine heilende Steuerung für die Zukunft, die mit Affirmationen für zukünftige Schwierigkeiten herbeigeführt werden soll („Rauchen ist mir ganz gleichgültig“) .

3.5 Anlassbezogene Selbstanalyse (nach Fromm)

Aktuelle Stolperer im Leben, (Müdigkeit, Ärger, Fehlleistungen, körperliche Anzeichen, …) werden bei den Prozessen der Selbstanalyse bei Erich Fromm (1900-1980) als Anlass beziehungsweise Gegenstand der Selbstanalyse genommen. Fromm empfiehlt hierzu ebenfalls eine meditative Lockerung, etwa wie bei der Imaginationsarbeit, um dann über den gewählten Anlass und dem darüber praktizierten ‚freien Assoziieren‘ (nach Freud), in die Tiefe zu gehen, hin zum bislang unbewussten Grund, der sich im Vorfall geäußert hat11.

3.6 Arbeiten mit dem Traumgeschehen

Bekanntermaßen hat Freud seine Selbstanalyse ganz entscheidend über Träume vorangebracht. Diese werden möglichst zeitnah aufgeschrieben und dann später analysiert. Thomas empfiehlt sogar eine Katalogisierung nach Typen und Themen.
Karen Horney wiederum empfiehlt bei der Traumarbeit, die Inhalte nicht direkt zu deuten, sondern diese eher als einen Ausdruck von vorliegenden Spannungen bzw. Prozessen zu sehen. Für sie sind Träume damit eher „indirekte Visualisierungen/Verbalisierungen“ von aktuellen psychologischen Prozessen und werden verstanden als „Bewältigungsstrategien des Kopfes“. Diese Aufräumarbeit ist nun insofern indirekt zu befragen, als dass die Aufräumarbeit des Traumes etwas anderes aufräumt bzw. komplementär entlastet. Damit sind die Gegenstände tatsächlich nicht mehr das eigentliche Thema, sondern es sollte eher gefragt werden: Welche Stellen räumt der Traum frei, was wird dadurch entlastet?

4. Fragen der praktischen Durchführung

Zunächst ist alles ganz einfach: Ein Stift, ein Blatt, eine halbe Stunde ungestörte Zeit sind alles, was man benötigt. Doch dann steht schon die erste Frage im Raum – mit welcher der oben vorgestellten Techniken sollte man anfangen? Sicher nicht falsch ist der Weg über die Biografie. Jeder besitzt eine und in jeder Biografie liegen auch Fragen an ihre Trägerin. Vielleicht wäre hier eine Unterteilung gut, die natürlicherweise entsteht: Welches Material liegt schon vor, welches muss man sich erarbeiten? Zunächst gibt es eine Abstufung von Zugänglichkeit und Faktizität; die in absteigender Reihenfolge so aussehen könnte:

Methode Material vorhanden /zu erschaffen Zugang & Faktizität
1 Biografiearbeit vorhanden leicht zugänglich, faktisch
2 Fragebogenmethode vorhanden leicht zugänglich, faktisch
3 Anlassbezogene Analyse vorhanden schwerer zugänglich, semifaktisch
4 früheste Kindheitserinnerungen teilw. vorhanden schwerer zugänglich, semifaktisch
5 Traumgeschehen vorhanden leicht zugänglich, illusorisch
6 Imaginationsarbeit zu erschaffen illusorisch

Nun entscheiden die Ziele: Will man eher an der Oberfläche bleiben, ist die Biografie der nächste und – je nach Gestaltung – am wenigsten tief gehende Technik. Die Fragebogentechnik nach Thomas sorgt dann dafür, dass man auch aktuelle Sachlagen gründlich ansieht bzw. bearbeitet. Diese zwei Techniken benötigen auch zunächst keine „freie Assoziation“ als Freudsches Mittel, Unbewusstes Material zu heben. Soll jedoch eben auch das analysiert bzw. hervorgebracht werden, kommen die Techniken 3-6 ins Spiel. Sie wiederum haben andere Gradienten von Zugänglichkeit und Faktizität.

Es ist daher kein Wunder, dass v. Werder eine Kombination vorschlägt, also dass man mit zwei oder drei Techniken beginnt und dann sieht, ob es bestimmte Schwerpunkte gibt, die man dann wiederum mit verschiedene Techniken bearbeiten möchte.

Hier zeigt sich auch die größte Schwäche der Selbstanalyse: Ich kann unangenehmen Material ausweichen oder einfach „übersehen“. Um dies wenigstens teilweise zu verhindern, empfiehlt v. Werder die Selbsthilfegruppe.


Literatur & Quellen

  • Freud, Sigmund (1900/ 2015): Die Traumdeutung. Hamburg: Nikol.
  • Fromm, Erich (2020): Vom Haben zum Sein: Wege und Irrwege der Selbsterfahrung. 11. Auflg. R. Funk (Hg.). München: Ullstein.
  • Gudjons, Herbert (2020): Auf meinen Spuren Übungen zur Biografiearbeit. 8., unv. Auflg.. München: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Horney, Karen (1994): Selbstanalyse. Frankfurt am Main: Fischer tb.
  • Leuner, Hanscarl (2012): Katathym-imaginative Psychotherapie: Grundstufe – Mittelstufe – Oberstufe. Bern: Huber.
  • Moritz, Karl Philipp, und Alexander Košenina (2022): Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Ditzingen: Reclam Verlag.
  • Thomas, Klaus (1972): Selbstanalyse: die heilende Biographie, ihre Abfassung und ihre Auswirkung. Stuttgart: Thieme.
  • Werder, Lutz von/ Melerski, Hans-Jürgen (Hgg.)(1990): Alltägliche Selbstanalyse: Freud – Fromm – Thomas. Weinheim: Dt. Studien-Verlag.
  • Werder, Lutz von (Hg.)(1992): Die Selbstanalyse in Therapie und Selbsthilfe. Weinheim: Dt. Studien-Verlag.

1 Stoicism: https://plato.stanford.edu/entries/stoicism/

2 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser – Ein psychologischer Roman

3 K. P. Moritz: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte

4 Sigmund Freud (1899): Die Traumdeutung

5 Karen Horney (1942/2017): Selbstanalyse

6 Klaus Thomas – Wikipedia-Eintrag

7 Lutz von Werder (1992): Die Selbstanalyse in Therapie und Selbsthilfe

8 Gudjons (2008): Auf meinen Spuren – Übungen zur Biografiearbeit

9 Zum Begriff des Körperpanzers bei Wilhelm Reich Link

10 www.aerzteblatt.de: Katathym-imaginative-Psychotherapie-Imaginationen-gewinnen-an-Bedeutung

11 Lesenswertes Fromm-Manuskript (PDF): Vom Haben zum Sein